aus Braunschweiger Zeitung vom 25.Oktober 2010

 

Thema des Tages: Geheim-Akten
109 000 Tote, davon weit mehr als 60 000 Zivilisten, 15 000 bisher unbekannte Opfer. Die Internetplattform Wikileaks macht bisher geheime Akten der US-Armee aus dem Irak-Krieg öffentlich.

Gräuel und Kriegsverbrechen im Irak
Wikileaks veröffentlichte geheime Akten - US-Soldaten schauten weg, wenn Iraker Gefangene quälten
Von Friedemann Diederichs

WASHINGTON. Für Generalstabschef Mike Mullen ist die bisher umfangreichste Wikileads-Enthüllungsaktion "unverantwortlich", weil sie "Leben gefährdet und Feinden wertvolle Informationen gibt", meldete er sich gestern zu Wort. Zuvor hatten bereits das Pentagon und die Außenministerin Hillary Clinton ähnliche Töne angeschlagen - und darauf verwiesen, dass es sich bei den massiven neuen Daten-Leck lediglich um anfängliche und rohe Beobachtungen durch Einheiten vor Ort handele, die nicht die ganze Geschichte erzählen."
US-Präsidenten Barack Obama, mit seinem Amt auch Oberbefehlshaber der US-Truppen, entschloss sich zunächst zu konsequentem Schweigen. Bei einem  Wahlkampfauftritt vor Studenten in Minneapolis und Stunden später bei einer Spendensammel-Rede in einer Privatvilla verlor er am Samstag kein einziges Wort zum Irakkrieg oder den Wikileads- Enthüllern. Die Wirtschaftslage und die Blockadepolitik der Republikaner im Kongress.
Dabei lassen sich aus dem gewaltigen Daten-Berg jede Menge Neuigkeiten über den schonungslosen Alltag des blutigen Krieges herausfiltern, die eigentlich nach politischer Aufarbeitung und Stellungnahme schreien: Es gab mehr Opfer unter Zivilsten als bisher angenommen und jede Menge verhängnisvolle Missverständnisse an Kontrollposten mit fast 700 Toten - wie den Fall, wo en GI irrtümlich einen irakischen Dolmetscher der US-Truppen erschoss.
Der raue Umgang mit irakischen Gefangenen - bis hin zu eindeutigen Fällen von Folter und Verstümmelungen - durch irakische Polizisten und Militärs war offenbar an der Tagesordnung und den USA bekannt. Der Iran mischt nach Kräften im Irak mit, versorgt Aufständische mit Waffen, Explosivtechnologie und Hinweisen. Private US-Sicherheitsfirmen hatten bei ihren Einsätzen zweifelhafte Freiheiten, trugen zu Unruhe bei und wurden kaum kontrolliert. Und am alltäglichen Chaos und dem internen Ringen am Macht im Zweistromland hat sich in den sechs Jahren bis zum 31.Dezember 2008 , die durch die Dokumente ausgeleuchtet werden, kaum etwas geändert.
Vom Vorwurf der Kriegsverbrechen, den Wikileads-Gründer Julian Assange am Samstag in London erhoben hatte, will man in Washington nichts wissen. Es gebe nichts, was auf Kriegsverbrechen hinweise, so Pentagon-Sprecher Jeff Morell. Unter den Vor-Ort-Berichten finden sich allerdings Vorgänge, die durchaus einer legalen Grauzone zugerechnet werden könnten oder zumindest weitere Ermittlungen rechtfertigen würden - wie jede Menge Vorwürfe von irakische Häftlinge gegenüber amerikanischen Soldaten, dass Kooperation durch die Drohung erzwungen wurde, sie der irakischen Polizei zu überstellen.
Die Dokumente enthalten auch Hinweise auf schockierende Zustände in irakischen Lagern und Folter-Tote, wobei sich hier die Frage aufdrängen würde. Haben US-Militärs genug getan, um derartige Exzesse zu vermeiden?
Doch von neuen offiziellen Untersuchungen sprach in den USA keiner der verantwortlichen Politiker. Und das Hauptinteresse der TV-Sender gilt derzeit den Kongress-Zwischenwahlen am 2.November. Immer deutlicher drängt sich der Eindruck auf, dass unter den Irakkrieg möglichst schnell ein Schlussstrich gezogen werden soll.

 

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